
Dieser Nachruf erschien erstmals am Abend des 21. Juli 2022.
Im Jahr 2012 traf ich Uwe Seeler in der Bar eines Nürnberger Hotels. Weiter vorn am Tresen schimpfte sturzbetrunken der Dichter Max Goldt wahlweise mit dem Barkeeper oder seinem imaginären Ich. Seeler hingegen saß umringt von ein paar Hamburger Freunden an einem Tisch, grinste wie ein Honigkuchenpferd und schlürfte beglückt aus einer Bierflöte.
Am Abend hatte ihn die „Akademie für Fußballkultur“ mit dem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Bei der Übergabe fragte ihn die Moderatorin, wie er diese Auszeichnung denn zu feiern gedenke. Im breiten Idiom des Hamburger Hafenarbeitersohns tat er kund, dass er sich nun auf „ein schönes Glas Weißwein“ im Kreise der anwesenden Fußballfamilie freue.
Als ich ihn nun in der Bar ansprach, warum er denn statt des gediegenen Rieslings ein Gezapftes tränke, entgegnete Seeler freundlich: „Min Jung, Weißwein hatte ich vorhin genug, jetzt geh ich mit meinen Freunden zum gemütlichen Teil über.“
Ein Mensch aus der Mitte des Lebens
Uwe Seeler war als Fußballheld ein Fixstern des analogen Zeitalters. Wer ihn kennenlernte, traf keinen grantelnden Alt-Star, keinen Ehrenspielführer, keinen prätentiösen Fußball-Helden, sondern einen Menschen aus der Mitte des Lebens. Er wusste, wie man genießt und dass es sich nicht lohnt, zu lang vergebenen Chancen nachzuweinen. Er konnte unwirsch sein, wenn ihn Grundschüler wegen Autogrammen bedrängten („Nimm doch mal einer die Kinder hier wech“) oder auch menschliche Schwächen eingestehen, als er sich in den Neunzigern überreden ließ, die HSV-Präsidentschaft zu übernehmen und dabei ziemlich glücklos agierte. Bedenkt man, dass Seeler fast zwanzig Jahre lang zu den besten Stürmern der Welt zählte, der in 72 Länderspielen 43 Treffer markierte und für seinen HSV Tore wie am Fließband schoss (404 Tore in 476 Pflichtspielen), ist kaum vorstellbar wie zugewandt er seinen Mitmenschen bis ins hohe Alter blieb.
Zehn Bockwürste an einem Abend
Fußballpersönlichkeiten wie er werden heute nicht mehr produziert. Er lernte Disziplin unter der harten Knute von „Vadder“ Erwin, der ebenfalls ein großer HSV-Star gewesen war. Gemeinsam mit seinem guten Freund Klaus Stürmer wurde er am Rothenbaum von Trainerlegende Günter Mahlmann geschliffen. Der Alte hielt die beiden Hochbegabten an der langen Leine, gestand ihnen Bockwurst-Wettessen zu (Zitat Seeler: „Einmal habe ich zehn Stück an einem Abend verdrückt. Ich war und bin eine fleischfressende Pflanze. Im Stadion esse ich bis heute Bockwurst, die knacken einfach so schön.“) und wusste genau, wie er die verirrten Kriegskinder zu Höchstleistungen trieb.
Schon als Teenager traf der gedrungene Stoßstürmer fast nach Belieben. Mit 17 Jahren gab er als Sturmspitze in der frischgebackenen Weltmeisterelf von Sepp Herberger sein Nationalelfdebüt gegen Frankreich. Unsterblich als Fußballer machte er sich gleich drei Mal in seiner Laufbahn:
1961 als er einem obszönen Millionenangebot von Inter Mailand widerstand, weil er seine Heimat Hamburg, seinen Herzensklub und seine Anhänger nicht enttäuschen wollte. 1,2 Millionen Mark hatten ihm die Italiener geboten, ein Salär das damals die Grenzen alles Vorstellbaren sprengte. Doch der hanseatische Kugelblitz ließ sich nicht erweichen.
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